Unabhängiger Journalismus in Ungarn – EU vs. Orbán

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Die Pressefreiheit ist eine tragende Säule jeder Demokratie – doch sie steht in Ungarn zunehmend unter Beschuss. Unter der Führung von Ministerpräsident Viktor Orbán wurde das Land zu einem Paradebeispiel für den schleichenden Rückbau rechtsstaatlicher Strukturen in der EU. Besonders der unabhängige Journalismus ist Zielscheibe staatlicher Repressionen. Die Europäische Union steht vor der Herausforderung, ihre demokratischen Grundwerte zu verteidigen – gegen ein Mitgliedsland, das sich immer weiter vom liberal-demokratischen Konsens entfernt.

Hintergrund und Entwicklung

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010 hat Viktor Orbán mit seiner Partei Fidesz eine umfassende Kontrolle über politische, juristische und mediale Institutionen etabliert. Unter dem Schlagwort der „illiberalen Demokratie“ propagiert Orbán ein Modell, das nationale Souveränität über europäische Standards stellt. Besonders auffällig ist die systematische Umgestaltung der Medienlandschaft. Mit der Gründung der nationalen Medien- und Kommunikationsbehörde NMHH im Jahr 2010 wurde ein Instrument geschaffen, das nahezu uneingeschränkte Kontrolle über sämtliche Medieninhalte ermöglicht.

Bis 2018 wurden etwa 90 % der ungarischen Medienlandschaft unter direkte oder indirekte Kontrolle der Regierung gebracht. Kritische Stimmen wie die Tageszeitung „Népszabadság“ wurden eingestellt oder aufgekauft. Investigative Formate wurden verdrängt, Redaktionen wie die des Onlineportals „Index.hu“ zerschlagen, Journalist\:innen entlassen oder zum Schweigen gebracht.

Aktuelle Schikanen gegen Journalisten

Lügendetektor als Einschüchterungsinstrument

Ein besonders aufsehenerregender Fall ereignete sich im Frühjahr 2025. Der ungarische Inlandsgeheimdienst AH rief mehrere Journalist\:innen des regierungskritischen Wochenmagazins „Magyar Hang“ zu Gesprächen ein – und unterzog sie dabei einer Lügendetektorprüfung. Anlass war ein redaktioneller Fehler in einem Kommentar zur ungarischen Grenzpolitik. Obwohl die Redaktion den Fehler öffentlich korrigiert hatte, wurden die Journalist\:innen unter Verdacht gestellt, „gezielte Desinformation“ betrieben zu haben.

Laut einem Bericht des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) sagte der betroffene Journalist Gergely Márton: „Es ging nicht um Aufklärung, es ging um Demütigung und Abschreckung. Wer so mit der Presse umgeht, will keine freie Meinungsbildung.“

Die AH agierte dabei auf Grundlage eines vagen Sicherheitsgesetzes, das eigentlich dem Schutz vor Terrorismus dienen sollte. Die Lügendetektor-Vorladung war ein symbolischer Akt – und eine klare Botschaft an andere Redaktionen.

Das „Foreign-Agent“-Gesetz: Ein Angriff auf unabhängige Medien

Noch brisanter ist ein Gesetzesvorschlag, der unter der Bezeichnung T/11923 im ungarischen Parlament verhandelt wird. Es verpflichtet alle Organisationen – auch Medienhäuser –, die mehr als 20 % ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, sich als „ausländisch beeinflusst“ zu registrieren. Die Konsequenzen reichen von öffentlicher Stigmatisierung über Strafzahlungen bis hin zu einem faktischen Berufsverbot.

Die ungarische Investigativplattform „Atlatszó“ warnt, das Gesetz würde „die Existenz unabhängiger Medien in Ungarn unmöglich machen“. Besonders betroffen sind neben Atlatszó auch Faktencheck-Initiativen wie „Lakmusz“ oder internationale NGO-Büros von „Transparency International“. Diese sehen sich künftig unter Beobachtung der neu geschaffenen „Behörde für die Verteidigung der Souveränität“, deren Aufgaben vage definiert, aber weitreichend angelegt sind.

EU-Reaktion und Gegenmaßnahmen

Die Europäische Kommission zeigte sich alarmiert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte im Mai 2025: „Ein solches Gesetz stellt einen direkten Angriff auf die Pressefreiheit dar und widerspricht den Grundwerten der Europäischen Union.“

Die Kommission prüft derzeit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Gleichzeitig laufen Diskussionen darüber, ob Mittel aus dem EU-Haushalt eingefroren werden können. Hintergrund ist die sogenannte Konditionalitätsverordnung, die EU-Zahlungen an Rechtsstaatlichkeit koppelt.

Auch die Zivilgesellschaft regte sich. Über 80 Herausgeber\:innen europäischer Leitmedien – darunter „Le Monde“, „Der Spiegel“ und „El País“ – unterzeichneten eine gemeinsame Petition gegen das geplante Gesetz. Sie fordern die EU auf, entschlossen zu handeln: „Wenn Brüssel jetzt nicht eingreift, verliert die Union ihre Glaubwürdigkeit als Verteidigerin der Pressefreiheit.“

Implikationen für die EU

Die Ereignisse in Ungarn werfen ein Schlaglicht auf eine tiefergehende Krise der Europäischen Union: Kann ein Staatenverbund, der auf Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus basiert, Mitglieder wie Ungarn zur Rechenschaft ziehen, wenn diese Prinzipien verletzt werden?

Ungarn ist längst kein Einzelfall mehr. Auch Länder wie Polen, die Slowakei oder Bulgarien zeigen teils autokratische Tendenzen. Das ungarische Modell könnte Signalwirkung entfalten – insbesondere wenn es wirtschaftlich keine Konsequenzen hat.

Politikwissenschaftler Michael Ignatieff sagte dazu in einem Interview mit „Politico“: „Ungarn ist ein Testfall für die EU. Wer Rechtsstaatlichkeit zur Verhandlungsmasse macht, riskiert die Einheit des europäischen Projekts.“

Fallbeispiele unabhängiger Medien

Unabhängiger Journalismus existiert in Ungarn noch – doch er kämpft ums Überleben.

Das Wochenmagazin „Magyar Hang“, gegründet von ehemaligen Index-Redakteuren, betreibt investigativen Journalismus – ohne staatliche Anzeigen, ohne große Verlagshäuser im Rücken. Chefredakteur Csaba Lukács sagt: „Unsere Leser sind unsere einzige Rückversicherung. Wir drucken unser Magazin in der Slowakei, weil sich in Ungarn keine Druckerei mehr traut, mit uns zusammenzuarbeiten.“

Die Faktencheck-Plattform „Lakmusz“ arbeitet mit internationalen Partnern wie AFP und der ungarischen Presseagentur MTI. Doch die künftige Einstufung als „ausländisch beeinflusst“ könnte das Projekt faktisch beenden. Projektleiterin Ágnes Urbán kommentiert: „Wir versuchen, Desinformation zu bekämpfen – und werden nun selbst zur Zielscheibe gemacht.“

Auch „Atlatszó“, ein Portal für investigative Recherchen zu Korruption und Machtmissbrauch, berichtet von wachsendem Druck: wiederholte Steuerprüfungen, Server-Hacks, Hetzkampagnen in regierungsnahen Medien. Redakteur András Pethő spricht von einem „Informationskrieg gegen die Demokratie“.

Ausblick und Fazit

Ungarn steht vor der nächsten Parlamentswahl 2026. Beobachter\:innen gehen davon aus, dass die Regierung die Medienpolitik weiter verschärfen wird – als Teil ihrer Strategie zur Machterhaltung. Je weniger Kritik, desto weniger Kontrolle. Dabei wird zunehmend auch auf digitale Überwachung und juristische Einschüchterung gesetzt.

Die EU steht unter Zugzwang. Entweder sie verteidigt ihre Werte mit aller Konsequenz – oder sie akzeptiert eine Aufweichung ihrer Grundlagen. Die Sperrung von EU-Geldern ist ein erster Schritt. Doch auch die Unterstützung unabhängiger Medienprojekte durch EU-Stiftungen, Stipendienprogramme oder digitale Infrastruktur ist nötig.

Gleichzeitig zeigt sich, dass Journalismus sich nicht einfach unterdrücken lässt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Redaktionen, etwa durch das Netzwerk „Investigate Europe“, gewinnt an Bedeutung. Journalisten finden Wege – trotz Repression.

Letztlich stellt sich für Europa eine entscheidende Frage: Wie viel Meinungsfreiheit ist man bereit zu verteidigen? Und was ist ein demokratisches Versprechen wert, wenn es im Inneren ignoriert wird?

„Es geht nicht nur um Ungarn. Es geht darum, was wir als Europäer unter Freiheit verstehen.“ – Mit diesem Satz brachte es ein EU-Abgeordneter unlängst auf den Punkt.

Der Fall Ungarn ist ein Weckruf. Nicht nur für die Medien – sondern für ganz Europa.

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