Wir alle fragen uns von Zeit zu Zeit, warum wir in manchen Lebensbereichen nicht weiterkommen oder an einem bestimmten Punkt stehen geblieben sind. Es kann um das Erlernen eines Musikinstrumentes oder einer Sprache gehen, um unser Sportprogramm, das wir kontinuierlich machen oder überhaupt erst damit anfangen wollten. Es kann das Thema berufliche Weiterentwicklung sein, der Weg in die Selbständigkeit oder zu einer zufriedenstellenden, passenden Arbeit, was uns Kopfzerbrechen macht. Auch kann es um das Thema Partnerschaft, Familie oder Freunde gehen, wo wir merken, dass wir immer wieder in Situationen und Muster zurückgeworfen werden, die wir längst hinter uns lassen wollten. In vielen Fällen spielen hier auch Krankheiten und Symptome, die chronisch geworden sind, eine große Rolle.
Paulo Coelho beschreibt in seinem Roman „Der Zahir“ folgendes:
„Der Resignationspunkt“: Es gibt immer ein Ereignis in unserem Leben, das dafür verantwortlich ist, dass wir aufgehört haben, weiter voranzuschreiten. Ein Trauma, eine besonders bittere Niederlage, eine Enttäuschung in der Liebe, sogar ein Sieg, den wir nicht recht verstehen, führen am Ende dazu, dass wir kleinmütig werden und stehen bleiben.(…)
Der „Resignationspunkt“. Zwei Jahre lang habe ich versucht Gitarre spielen zu lernen. Anfangs machte ich gute Fortschritte, bis ich an den Punkt gelangte, an dem ich nicht weiter kam – weil ich herausfand, dass die anderen es schneller lernten als ich. Ich spürte, dass ich mittelmäßig war, und um mich nicht zu blamieren gab ich vor, Gitarre spielen interessiere mich nicht mehr. Das gleiche passierte mir mit Billard, Fußball, Radrennfahren: Anfangs machte ich gute Fortschritte, aber immer kam der Punkt, an dem es nicht mehr weiter ging. Warum?“
Was steckt hinter der Resignation?
Wir können uns zur Erklärung des Phänomens folgendes Bild vorstellen: Wir ähneln hierbei einem Elefanten, der als kleines Elefantenjunges mit einem Strick an einen Baum gebunden wurde. Das Kleine hatte einen bestimmten kleinen Radius in dem es sich frei bewegen konnte. Doch kam es immer wieder an diese Grenze, wo es nicht mehr weiter ging, wo der Strick es erbarmungslos festhielt. Es versuchte immer wieder weiter zu gehen, kämpfte, gab alles, bis zur Erschöpfung – immer wieder – letztendlich bis zur Resignation. Es gab irgendwann auf und entwickelte die Überzeugung, dass es einfach zu klein und zu schwach ist, um weiter als bis zu einer bestimmten Grenze zu gehen. Es arrangierte sich dann mit dem bisschen Freiraum, den es eben hatte. Später dann, in dem großen, erwachsenen Elefant, für den es das leichteste Spiel wäre den Strick zu zerreißen, lebt diese Resignation, dieses Bild der einst erlebten Hoffnungslosigkeit weiter…….und er bleibt innerhalb seiner alten Grenzen wie in einem Bannkreis stehen, obwohl die Neugier und die Sehnsucht nach Freiheit immer wieder auflebt und sich nicht unterdrücken lässt.
Es sind demnach unsere alten negativen Erfahrungen, die uns binden und einschränken. Sie geben uns eine falsche Realität vor, die längst vorbei ist und die mit unseren heutigen Potenzialen und Möglichkeiten im Grunde nichts zu tun hat. Es können dann schon wenige Ein-drücke aus unserer Umwelt ausreichen, um alte Gefühlszustände oder auch Krankheitssymptome in uns wach zurufen, die uns Druck machen und zum vorzeitigen Aufgeben bringen. Doch gibt es in uns trotz allem die Sehnsucht, das Drängen die alte Grenze zu überschreiten und unsere Potenziale zu leben.
Der „springende Punkt“
Doch wie können wir mit unseren persönlichen Resignationspunkten umgehen? In Wortspielen gesprochen: wie kann aus dem alten „Stand-punkt“ – aus der alten Überzeugung: „ich schaff das nicht“ – der „springende Punkt“ werden, der sich mitbewegt und unsere Ressourcen weckt?
Wenn man genau hinschaut beinhaltet dieser geschilderte Punkt nicht nur den Druck des Alten, sondern genau an diesem Punkt liegt auch der Beginn des Neuen. Man könnte auch sagen, hier ist der Schnittpunkt des Alten mit dem Neuen. Genau hier fängt unerforschtes Gebiet an, das Abenteuer, Wachstum, unser freier Gestaltungsspielraum. Nur bleiben wir genau hier stehen und gehen wieder zurück.
Es ist daher mehr als eine gut gemeinte Floskel, wenn man feststellt, dass der Resignationspunkt eine große Chance und Hilfe für uns sein kann. Stellen wir uns mal vor, dass wir eine Reise in ein fremdes Land machen wollen. Wie gehen wir normalerweise vor? Wir machen uns schlau über die Sitten und Verhaltensweisen, Klima und Landschaft und über mögliche Gefahren für unsere Gesundheit. Wir sprechen mit Menschen, die dort schon waren. Vielleicht lernen wir ein paar wichtige Redewendungen in der Sprache, die dort gesprochen wird. Möglicherweise müssen wir lange Zeit vorher ein Visum beantragen. Natürlich würden wir uns auch – zumindest im Groben – über unsere dortigen Reiseziele und Aktivitäten klar werden. Kurz gesagt, wir informieren uns vorher über das fremde Land. Wir bereiten uns darauf vor und stimmen den Verlauf der Reise auf unsere individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse ab. Der Reiz und das Abenteuer des Neuen ist gekoppelt an die nüchterne Haltung sich nicht zu überfordern, zu gefährden oder zu verausgaben.
Wie wäre es auf der anderen Seite, wenn Sie ohne sorgfältige Vorbereitung und ohne Wissen über das Land und seine Vorgaben einfach drauf los stürmen würden? Wahrscheinlich würden Sie schon an der Gepäckabgabe scheitern weil Sie viel zu viel Gepäck dabei haben oder ein Zollbeamter schickt Sie gleich wieder nach Hause weil der Pass abgelaufen ist. Falls Sie es tatsächlich schaffen an Ihrem Ziel anzukommen, merken Sie vielleicht plötzlich, dass Sie bei einer Temperatur von 15° C und häufigen Regenfällen dummerweise nur kurze Hosen und T-Shirts dabei haben oder Ihnen fällt auf, dass keiner Ihre Sprache spricht und Sie von einem Fettnäpfchen ins nächste treten. Nach kurzer Zeit würden Sie resignieren und sich wieder auf den Heimweg machen oder Sie hätten einen richtig stressigen Horrortrip, der Sie auslaugt und krank macht.
Was hat das mit unserem Resignationspunkt zu tun? Genau dieser sorgt dafür, dass wir uns nicht leichtsinnig in eine belastende und gefährliche Situation bringen. Der Resignationspunkt sagt uns wie ein wohlwollender Zollbeamter an der Grenze: „Stopp! Es könnte gefährlich für Dich werden! Sorge gut für Dich! So lasse ich Dich nicht durch!“ Darüber hinaus kann uns dieser Punkt als Reisebüro und Informationsbörse dienen für das, was Sie vielleicht noch berücksichtigen müssen und was Ihnen noch fehlt, um weiter zu gehen, um die Grenze passieren zu können. Ich schlage vor, den Resignationspunkt als Ihren persönlichen „Reiseberater für Ihr Neuland“ zu betrachten. Wir können hier von einer Doppelfunktion sprechen. Einmal hat dieses „Hindernis“ eine warnende Schutzfunktion und dann kann es eine nützliche Informationsquelle für Sie sein.
Das Interview mit der Resignation
Ein spielerisches Experiment, das angelehnt ist an Interventionen aus NLP und Systemischer Therapie, ist folgendes:
Wenn Sie sich darüber klar geworden sind wo Sie hin wollen und welches ungelebte Leben in Ihnen gelebt werden will, können sich vorstellen, dass Ihr Resignationspunkt, der auch Ihr Reiseberater ist, auf einem Stuhl neben Ihnen sitzt und Ihnen ein Interview gibt. Sie können auch einfach innerlich Kontakt mit ihm aufnehmen. Regen Sie dann folgenden Dialog an. Am besten ist es, wenn Sie die Antworten gleich aufschreiben.
Als ein Teil meiner Persönlichkeit würde ich Dir gerne ein paar Fragen stellen. Würdest Du Dich dazu bereit erklären?
- Was für eine positive Absicht hast Du? Was willst Du Gutes für mich erreichen?
- Wovor möchtest Du mich schützen? Was befürchtest Du, was passiert, wenn ich weiter gehe?
- Welche Ressourcen sind notwendig, damit ich weiter gehen kann? Was brauche ich im Neuland? Worauf muss ich achten?
- Welche innere Haltung und Einstellung sollte ich im Neuland einnehmen?
- Was können wir vereinbaren, damit es Dir leichter fällt, wenn ich weiter gehe?
- Wer oder was kann mich unterstützen? Brauche ich Hilfe? Wie oder wo kann ich diese bekommen?
- Was wäre der nächste mögliche konkrete Schritt – auch wenn es nur ein kleiner ist?
- Danke für Deinen guten Job und Deine Kooperation!
Ich hoffe, dass ich das Thema auf den Punkt bringen konnte und wünsche Ihnen bereichernde Erkenntnisse mit dieser Übung.
Andreas Kemmerer
Praxis für Beratung, Coaching und Psychotherapie
Oberstedter Straße 6
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